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Als Botschafter für Alphabetisierung hat Tim-Thilo Fellmer mit vielen Menschen gesprochen, die seine Erfahrungen teilen. Deswegen weiß er: "Meist sind die äußeren Umstände schuld. Er selbst ist in einer großen Familie aufgewachsen. Der Vater hat sieben Tage in der Woche gearbeitet. Die Mutter war trotz aller Liebe mit den sechs Kindern überfordert.
"Natürlich", räumt er ein, "war ich nicht besonders talentiert, die Schriftsprache zu erlernen." Doch gerade auf Kinder, die solche und andere Schwierigkeiten haben, müsse in der Schule individuell eingegangen werden. "Die Lehrer müssten viel mehr Zeit haben und vielfältige Lehrmethoden schon im Studium erlernen", so Fellmer.
Auch auf die Frage, wie es denn möglich ist, ohne richtig lesen und schreiben zu können, einen Schulabschluss zu erreichen, hat der Verleger eine plausible Antwort. Überforderte Lehrer hätten ihn meist versetzt - aus pädagogischen Gründen. Da wurde der Fokus auf mündliche Mitarbeit gelegt. Zudem war der Hauptschulabschluss in Hessen ohne Prüfung zu erlangen.
Nach der Schulzeit kam nur eine Ausbildung im Handwerk infrage. Tim-Thilo Fellmer hat Kfz-Mechaniker gelernt. Ohne Lesen und Schreiben ging allerdings auch das nicht ab. Doch der Azubi hat sich Spickzettel geschrieben und Ausreden erfunden. Da waren eben die Hände zu dreckig, um ein Schriftstück anzufassen.
"Der Leidensdruck wurde aber immer größer", berichtet Fellmer. Schon in der Schulzeit hatte er Schwächen mit seinen Auftritten als Klassenclown kompensiert. Als junger Mann hat er exzessiv Sport getrieben, war Bodybuilder und hat den starken Mann markiert.
"Aber mit der Zeit hat sich mein Wertesystem verändert", räumt der heutige Autor ein. "Mir wurde klar, dass ich zwar den dicken Max mime, aber eigentlich 'ne Luftnummer bin." Diese Erkenntnis hat den Mittzwanziger in eine Lebenskrise gestürzt. Damals hat er zwar den Weg zur Volkshochschule gefunden, aber anfangs das Lernen immer wieder unterbrochen. Den Grund erklärt er so: "Eine Schulzeit wie meine überstehst du ja nicht schadlos. Du bekommst ein Selbstbild, dass du dumm bist, und das verfestigt sich." Der Ausweg für den heute 49-Jährigen war ein Alphakurs. Dort hat er erlebt, "was Unterricht auch sein kann, nämlich individuelle Förderung in kleinen Gruppen".
Für den Autor und Verleger, der einen leidvollen Weg gehen musste, ist klar: "Die Schulen sind in der Pflicht, jedem Kind einen guten Start zu ermöglichen." Auch wenn das nicht zum Nulltarif zu haben ist, bekäme die Gesellschaft ein Vielfaches zurück.
Und Betroffenen eröffnen sich völlig neue Möglichkeiten. "Lesen und schreiben zu können", so Fellmer, "ist die Voraussetzung für selbstbestimmtes Handeln. Man kann ein Buch lesen und die Verträge, die man unterschreibt. Man kann Behördengänge machen, Urlaubskarten schreiben und den Fahrkartenautomaten bedienen."
Tim-Thilo Fellmer ist als Erwachsener vom Analphabeten zur Leseratte geworden. Heute sieht er es als seine wichtigste Aufgabe an, anderen Betroffenen Mut zu machen und ihnen zu zeigen, dass es sich lohnt, das Problem anzugehen und durchzuhalten, auch wenn es schwierig wird. Über Facebook kann jeder mit ihm Kontakt aufnehmen.